Murmeltiere im roten Blechgewandt
Wer kennt sie nicht? Die Phänomene, die man einfach nicht erklären kann?
Einleitung
Ich bin gerne und oft unterwegs. Nicht immer, um etwas in der Ferne zu erleben wie etwa in London oder Südfrankreich.
Nein, es geht auch mal ganz nah. Denn in den besonderen Zeiten zu Beginn der 20er Jahre rückt gezwungenermaßen für viele wieder das Nahe noch näher in den Fokus des Alltäglichen. Und das ist eben das, was direkt vor der Haustüre liegt. Die Heimat also. Man muss nicht lange planen und lange Strecken auf sich nehmen. Nein, man sattelt die Hühner einfach direkt an der Haustüre und ab geht’s in die nahe Botanik. Und so ganz nebenbei lernt man auf diese Weise die Heimat neu kennen.
Bei vielen Zeitgenossen bilden sich dann schnell und ohne Vorwarnung die ersten Marotten, die man an seinen Mitmenschen so gar nicht schätzt. So auch bei dem Verfasser dieses kleinen Beitrags.
Sonntagsroutine
Man mag es frühzeitige senile Bettflucht nennen, aber ich nenne es einfach einen guten Start in den Tag. Denn meine neue Marotte ist der allsonntägliche Morgenspaziergang. Nicht früh, sondern ganz früh. Es gibt nichts Befreienderes als leere Wege und eine erwachende Natur. Perfekt, um seine Gedanken zu sortieren, einfach das Hier und Jetzt zu genießen und sich mit Bewegung sein üppiges Frühstück zu verdienen.
Und auf eben dieser Marottenrunde treten seit einiger Zeit seltsame Dinge auf – oder vielmehr unheimliche Begegnungen.
Gewohntes
Wer ganz früh am Morgen das Haus in die Natur verlässt, tut dies vorwiegend, um den Tag mit einem ruhigen, sortierten Start zu begrüßen. Ich denke, das geht vielen anderen auch so. Es sind die frisch erwachten Kühe, die man auf der Weide beim Grasrupfen betrachtet. Oder auch die Ziegen, die beim Vorbeigehen gestreichelt werden möchten. Und gerade die seltenen Begegnungen mit Fuchs, Reh und Hase lassen das Herz schon zu dieser frühen Stunde Freudensprünge machen. Es sind diese Momente, die das frühe Aufstehen doch erst richtig lohnenswert machen.
Auch manche menschliche Begegnung passt in dieses Schema. Da ist der Naturschützer, der morgens in aller Frühe viele Stunden seiner Freizeit opfert, um fleißig Jakobskreuzkraut aus der Wiese zu zerren, damit die Kühe des Wiesenbesitzers nicht daran verenden. Oder auch der Landwirt, der es immer schafft, just in dem Moment, in dem nichtsahnende Spaziergänger an der Kuhstalltüre vorbeilaufen, seine frisch gewonnene Milch umzugießen und sein erstes kleines Schwätzchen zu halten. Dies sind die angenehmen Momente des Morgens.
Leider gibt es aber auch Begegnungen, die man so früh morgens gar nicht braucht. Wenn sie dann auf höchst suspekte Art und Weise immer wieder geschehen, fühlt man sich in den berühmten Film der 90er hineinversetzt. Dies sind dann die süßen Murmeltiere, die wöchentlich grüßen – ungewollt. In meinem Fall sind die Felltiere leider gar nicht mehr so putzig und haben zwei Beine. Das sind dann die lieben Nachbarn.
Premiere
Unsere erste Begegnung fand vor ca. 8 Wochen statt. Auf dem letzten Kilometer zu meiner Haustüre und dem wohlverdienten Frühstück. Ich schlenderte zufrieden und voller Vorfreude den Feldweg zum Ort entlang. Man muss dazu sagen, dass zu dieser Zeit, meist zwischen 6 und halb 8, keine Menschenseele mit einem Auto unterwegs ist. Warum auch? Doch plötzlich ein leises Brummen in der Ferne. Ich bemerkte kurze Zeit später einen kleinen roten Mercedes, der sich mir langsam von vorne näherte. Ganz sachte und zaghaft. Schon von weitem konnte ich erkennen, dass sich darin zwei Personen befanden. Ungefähr 100 Meter vor unserem Aufeinandertreffen bewegte sich die Fensterscheibe auf der Fahrerseite langsam nach unten. Mir war sofort und unmissverständlich klar, dass da jemand ein Schwätzchen halten wollte.
Als der Wagen direkt neben mir stand, sah ich hinein. Oje, es waren meine Nachbarn. Eigentlich liebenswerte Menschen, die ich sehr schätze und auch mag. Dennoch hatte ich zu dieser frühen Stunde noch keinerlei Lust auf nachbarschaftliche Kontaktpflege.
Es kam wie befürchtet. Denn Smalltalk war erwünscht. „Was machst du denn so früh schon auf den Beinen?“. „Ich genieße die Ruhe. Und ihr?“ – „Wir möchten zu den Pferden“. So ging es hin und her. Belangloses wechselte mehrmals und schier unendlich die Seiten. Mein Magen knurrte und ich bekam die beiden einfach nicht los. Irgendwann warf ich ein, dass mein Frühstück warten würde und ich losmüsste. Das war der Brustlöser. Warum war ich nicht früher auf diese geniale Idee gekommen? Zwar etwas rüde, aber zweckmäßig. Tief durchatmend setzte ich meinen Weg fort.
Nicht schon wieder!
Die Woche darauf dann die erneute Begegnung. Diesmal ein paar hundert Meter näher am Ortsschild. Kleiner roter Mercedes voraus. Wieder fuhren exakt 100 Meter vor unserem Aufeinandertreffen die Scheiben sachte herunter. Und erneut schauten mich die gleichen verdutzten Gesichter der Vorwoche an. „Nicht schon wieder!“ schoss es mir durch den Kopf. Aber es war bereits zu spät. Also Augen zu und durch. Wieder Smalltalk. Nicht nur die Gesichter im Auto waren gleich. Es war auch der Wortverlauf, der zur Vorwoche unverändert ablief. Wieder 10 Minuten Magenbrummen mehr und die gleiche Ausrede, endlich weiterziehen zu können.
Im Nachhinein fiel mir auf, dass ich an diesem Sonntag 15 Minuten später auf der Strecke gewesen war und wir trotzdem aufeinandergeprallt waren. Naja, Zufall halt.
Das gibt’s doch nicht!
Wieder eine Woche später. Ich hatte verschlafen und war eine halbe Stunde später auf der Strecke. Konnte also nicht viel passieren. Dachte ich mir. Doch es kam, wie es kommen musste. Ich bog die Straße zum Ortsschild ein und da schimmerte bereits etwas Rotes aus der Ferne durch die Bäume, das langsam, aber unausweichlich, immer näherkam.
Das war doch zum Mäusemelken. Wieder die beiden Gestalten in ihrem kleinen, roten Mercedes. Und erneut das gleiche Drama von vorn: „Was machst du denn so früh schon auf den Beinen?“. „Ich genieße die Ruhe. Und ihr?“ – „Wir möchten zu den Pferden. Bist aber spät dran heute“. „Ja, habe verschlafen. Ihr aber auch, oder?“ „Ja, wir kamen heute später weg“. Und so weiter und so weiter. Wie in der letzten Woche.
So langsam kamen mir die beiden vor wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Jeder Sonntag fing seit neuestem gleich an – Laufrunde und Schwatz. Und so ein bisschen nervig war das schon. Alleine die Scheibe, die exakt hundert Meter vor dem Aufeinandertreffen herunterlief und keine Chance auf Ausflüchte gab, war Grund genug, Reißaus zu nehmen. Als ich die alte Leier dann wieder über mich ergehen lassen hatte, dachte ich mir dann beim Weitergehen: „Wartet. Euch zeig ich es. Ich ändere meine Routine“.
Neue Chance sieben Tage später
Wieder Sonntag. Gleiche Zeit. Aber neue Strecke. Ja, ich hatte mir vorgenommen, die Murmeltiere auszutricksen. Ich lief die gewohnte Strecke einfach rückwärts. Also entgegen meiner gewohnten Laufrichtung. Diesmal zuerst den milchausgießenden Landwirten begrüßen, dann die NABU-Menschen beim Kräuterstechen bewundern und schließlich entspannt den Rest des Weges genüsslich nach Hause schlendern. Und vielleicht fand sich ja so manche Naturbegegnung, die die Strecke besonders lohnenswert machen würde. So war der Plan.
Was war ich stolz, auf diese glorreiche Idee gekommen zu sein. Zumal der Weg andersherum komplett neue Perspektiven bot. So schritt ich zufrieden meine neue Runde ab und entdeckte viele neue Stellen, die mir vorher so gar nicht aufgefallen waren.
Ich bog auf den schmalen Feldweg ein, der mich bis an unser kleines Dörfchen bringen sollte und… Was war das? Da kam mir doch schon wieder ein kleiner, roter Wagen auf dem Weg entgegen. Es werden doch wohl nicht….
Jede Frohlockung erstickte im Keim, als wir die 100 Meter-Marke überschritten. Denn auf der Fahrerseite fuhr langsam die Fensterscheibe herunter. Oh nein! Nicht schon wieder! Da waren sie wieder, meine zwei Probleme im Blechgewandt. „Wir wollten heute mal die Bauarbeiten an der Solaranlage anschauen“. In der Nähe wurde mit großem Getöse ein Freifeldsolarpark aufgebaut und just in dem Moment hatte die sich entschieden, dorthin zu fahren. Na toll, so ein Zufall aber auch. Und wieder der gewohnte Schwatz. Natürlich zu meinem Leidwesen, denn auch andersrum hatte die 8 km-Strecke intensive Hungergefühle gebracht.
Paranormalität?
15 Minuten später als gewollt machte ich mir dann auf den letzten Metern so meine Gedanken. Vier Wochen nacheinander. Unterschiedliche Zeit, verschiedene Strecken. Die gleiche Begegnung. Das grenzte ja schon fast an Stalking. Paranormalität. Hatten die spioniert, wann ich losgelaufen war? Oder mir gar einen Peilsender angehängt? Wildeste Spekulationen gingen mir durch den Kopf. Das war schon sehr merkwürdig.
Oder war es einfach nur Zufall? Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, jemanden so oft (viermal nacheinander) unter so vielen verschiedenen Parametern zu treffen? Dazu müsste man mal eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufstellen.
Aber was tun? Die zwei gingen mir nämlich mächtig auf den Wecker. Wirklich nette Leute. Aber nicht zu dieser Zeit. Ich wollte meinen Tag in Ruhe mit meinen gewohnten Ritualen beginnen. Und dazu gehörte definitiv nicht diese Begegnung der unheimlichen Art.
Zurück auf Start
Wieder haben wir Sonntag. Das Morgenritual stand an. Und ich machte mich bereits im Vorfeld darauf gefasst, wieder die beiden Murmelmenschen zu treffen. Es war nicht die Frage ob, sondern wo wir uns diesmal über den Weg laufen würden.
Also fügte ich mich in mein Schicksal und lief die gewohnte Runde. Also gleiche Zeit, gleiche Runde wie immer. Vorwärts. Es war quasi alles für unsere frühmorgendliche Begegnung angerichtet. Doch was geschah? Ich lief den letzten Teil des Weges in unser Örtchen hinein und blickte mich verdutzt um. Denn immer noch rechnete ich damit, am Horizont den kleinen Roten mit den surrenden Seitenscheiben auftauchen zu sehen.
Aber je mehr ich mir den Kopf verrenkte, desto weniger kam der Flitzer. Das war komisch, irgendwie wie weggehext. So kam ich letztendlich ohne die fast schon gewohnte Begegnung zu Hause an. Kein kleiner roter Mercedes. Keine langsam herunterfahrende Scheibe an der Fahrertür. Und keine verdutzt dreinschauenden Gesichter, die mich erwartungsvoll anblickten. Wo war der erwartete Smalltalk geblieben? Ich war schon fast ein wenig enttäuscht.
Fazit
Es gibt Begegnungen, die mag man vermeiden. Weil sie einfach nicht in die Zeit, an den Ort oder in die Stimmung passen. Doch je mehr man sich um Vermeidung bemüht, desto verzweifelter ist man, wenn am Ende alle Mühe fruchtlos geblieben ist. Das Schicksal hat es einfach anders gemeint.
Doch unverhofft kommt oft. Und das besonderes, wenn man das Unverhoffte bewusst vermeiden möchte. Denkt man hingegen nicht daran und stellt sich auf dieses ein, kommt es natürlich anders als man denkt. Nämlich nicht. Und das auf Dauer. Denn seitdem tauchte der kleine Flitzer nicht mehr auf meinem vertrauten Weg auf.
Ich folgere daraus: Alles kommt so, wie es das Schicksal mit einem vorhat. Da spielen Zufallswahrscheinlichkeiten keine Rolle. Es passiert einfach. Und wenn es genug passiert ist, hört es einfach auf. So, als wäre es nie dagewesen.